Die neue Commerzbank, entworfen von Norman Foster, ist ein ökologisch korrekter Geldtempel. Ein Besuch auf Europas höchstem Haus.


Das Allerhöchste

Von Michael Herl und Rainer Drexel


Seit Monaten stehen Menschen auf dem Frankfurter Kaiserplatz und gucken in die Luft. Nur wenige Meter weg vom Hotel "Frankfurter Hof", der feinsten Herberge der Stadt, stehen sie. Gleich neben dem halbrunden Haus aus den Fünfzigern, aus dem unlängst die alteingesessene Mercedes-Vertretung auszog. Es war zu eng mitten in der Stadt, kein Platz für dicke Autos. Nun verkauft hier ein Auktionator schreiend Kunstkram. Manchmal stehen hier zehn, zwölf Menschen, mal auch an die hundert. Sie hören nicht den Auktionator schreien, sie gucken halsstarrig nach oben, in einem Winkel von etwa achtzig Grad. Und plaudern angeregt miteinander.

Sie diskutieren ein Hochhaus. 200 000 Tonnen schwer, 600 Millionen Mark teuer, 298 Meter und 74 Zentimeter hoch, inklusive der Antenne oben auf dem Dach.

Das höchste Haus Europas mitten in der Frankfurter City. Von jedem Winkel der Stadt aus ist es zu sehen, das schlanke Bauwerk, auch draußen von der A 5, der zehnspurigen Autobahn neben dem Flughafen, auf der die Menschen an Frankfurt vorbeifahren und ehrfürchtig oder abfällig über die Skyline der Stadt reden.

Sie sind jedenfalls Thema, das BFG-Hochhaus, die Türme der Deutschen Bank, der Messeturm und nun auch das Haus der Commerzbank.

"Ja, doch, ich bin stolz, dabeigewesen zu sein", sagt Rainer Sedlaczek, der Bauleiter der Firma Hochtief. Er steht oben, irgendwo in der 50. Etage, lehnt an der provisorischen Brüstung aus straff gespannten Stahlseilen, raucht eine Zigarette und blickt nach Süden, weit über den Frankfurter Hauptbahnhof, irgendwohin in Richtung Egelsbach, Lausanne und Tripolis. Rainer Sedlaczek spricht ein breites Hessisch, er kommt von hier, dort unten irgendwo, dort ist er groß geworden. Ein kleiner, verschmitzter Mann, 46 Jahre alt. Er trägt ein graues Wollsakko, eine Designerbrille mit grünen Punkten, ein blau-weiß gestreiftes Hemd, eine rote Krawatte mit Wappenmuster, schmutzige, braune Baustellenschuhe, einen Schutzhelm. Seit 28 Jahren arbeitet Rainer Sedlaczek bei der Hochtief, schon als Student jobbte er bei dem Unternehmen. So manches Hochhaus hat er hochgezogen, er ist mitverantwortlich für die Skyline seiner Heimatstadt. "Doch man kann keines mit dem anderen vergleichen", sagt er, "jedes hat sein Eigenleben."

Dieses hier steht auf 111 Betonpfählen, die sich durch die Tonschicht dicht unter der Frankfurter Innenstadt bohren und bis zu 50 Meter tief in den darunterliegenden Kalksteinboden hineinragen. Alle anderen Hochhäuser am Main sind "schwimmend" gelagert, sie ruhen auf einer Platte in der Tonschicht. Doch sie setzen sich im Laufe der Jahre, drücken sich um bis zu 25 Zentimeter ins Erdreich. Nicht so das Commerzbank-Gebäude. Nur maximal 2,5 Zentimeter werden sich die 111 Pfähle in den Kalk senken - mehr wäre zuviel, da sich sonst das benachbarte alte Commerzbank-Gebäude mit seinen 27 Stockwerken schräg stellen würde.

Eine weitere Einzigartigkeit: Das Haus wird getragen von einem Stahlgerippe, eine bislang in Europa einmalige Konstruktion. 18000 Tonnen Stahl wurden dafür gebraucht, mehr als doppelt soviel wie für den Eiffelturm. Und doch ist das neue Haus ein Leichtgewicht. Mit seinen 200 000 Tonnen wiegt es ein Drittel weniger als ein vergleichbares Gebäude aus Beton. Zudem ist es widerstandsfähiger. Die DI-Norm für Hochhäuser schreibt eine Haltbarkeit von 80 Jahren vor; das Verfallsdatum dieser Bank wäre also das Jahr 2077. "Unser Haus wird aber gewiß 165 Jahre wartungsfrei stehenbleiben", sagt Lutz Kalkstein, der Architekt der Commerzbank, "dann müssen einige Schrauben nachgezogen werden." Danach könne man mit einer Lebensdauer von mindestens 250 Jahren rechnen.

Aber will man es dann noch haben, im Jahre 2250? Werden sie es überhaupt jemals mögen, die 2400 Menschen, die auf 45 Büroetagen ihrem Tagwerk nachgehen sollen? Einiges schließlich ist ungewöhnlich, neu, geradezu revolutionär - meinen zumindest die Leute von der Bank und Sir Norman Foster, der Konstrukteur des Hauses. Man gibt sich umweltfreundlich in Deutschlands drittgrößtem Geldinstitut, vermeidet jedoch tunlichst den Begriff "Ökohaus". Dennoch sagt der Architekt Kalkstein: "Dieses Gebäude ist der Beginn einer neuen Generation."

Es fängt damit an, daß es in Handwaschbecken auf Toiletten kein warmes Wasser gibt. Und das kalte Wasser wird wiederverwendet für die Toilettenspülung. Schon jetzt verfügt das gesamte Gebäude über ein - vorerst stillgelegtes - zweites Leitungssystem für den Fall, daß die Stadt Frankfurt irgendwann einmal Brauchwasser für die Toiletten anbieten wird.

Mit dem komplizierten Be- und Entlüftungssystem möchte man knapp ein Drittel an Energiekosten im Vergleich zu herkömmlich klimatisierten Gebäuden sparen. Die gesamte Fassade des Gebäudes ist mit einer Glasschicht überzogen, in der Frischluft zirkuliert. Bis zur 50. Etage können alle 8000 Fenster zum Lüften auf Knopfdruck individuell gekippt werden - sofern sich alle Bürobenutzer einig sind. Nur bei zu starkem Wind schließen sich alle Fenster automatisch, und eine Lüftungsanlage tritt in Funktion. Lutz Kalkstein: "Wir schätzen aber, daß die Leute an 230 Tagen im Jahr natürlich lüften können." Die Wärme der verbrauchten Luft wird über Rückgewinnungssysteme zum Heizen und somit zum Reduzieren des Energiebedarfs benutzt. 100 Millionen Mark kostete dieses neu entwickelte Aircondition-System, immerhin 16 Prozent der Gesamtkosten.

Ein weiteres gewöhnungsbedürftiges Umweltschmankerl: Das Licht in den Räumen schaltet sich automatisch aus, sobald ein Bewegungsmelder eine Stunde lang keinen Mucks im Zimmer registriert. Also nicht nur kalt waschen, auch noch ständig in Bewegung bleiben oder sonst im Dunkeln sitzen - schlechte Zeiten für regungslose Denker, paradiesische hingegen für Büroschläfer.

Doch auch ans Wohlbefinden wurde gedacht. Dafür gibt es grüne Oasen, überall im Haus verteilt. In einer Gärtnerei außerhalb Frankfurts werden jetzt schon Bäume und Sträucher auf den Ernstfall vorbereitet - den Umzug ins höchste Haus Europas. "Eigentlich wollten wir ja nur einheimische Gehölze verwenden" , sagt Lutz Kalkstein, "damit jeder sagen kann, ich habe die gleichen Bäume wie in meinem Garten auch im Büro im 36. Stock." Doch im Gegensatz zu den Commerzbank-Menschen war es den Kiefern, Fichten, Buchen und Erlen nicht beizubringen, ihr Dasein im - wenn auch ökologisch - temperierten Ambiente zu fristen. Kalkstein: "Die sind halt auf den Frost angewiesen." So weit wollte man bei aller Liebe zur Frischluft nicht gehen und ersann eine pfiffige Botanik geographischer Prägung: Im südlichen Teil des Gebäudes werden mediterrane Zypressen stehen, im östlichen fernöstliche Fächerahorne, im nördlichen nordamerikanische Redwood-Bäume, die bis zu zehn Meter hoch werden dürfen.

Sehen kann man sie von fast jedem Büroraum aus, egal in welcher Ecke der Gesamtfläche von 538 000 Quadratmetern man untergebracht ist Auch das ist eine Sensation, denn der Neubau ist, was ein Hochhaus dieser Größe noch nie war: hohl. Wo in anderen Wolkenkratzern Fahrstühle und Versorgungsschächte sind, ist hier nichts als ein Atrium, über 200 Meter hoch. "Vertikal offenes Volumen" nennt das der Architekt Foster; die logistischen Einrichtungen hat er in die Ecken des dreieckigen Baus verbannt.

In so einer Architektur-Revolution hat natürlich auch das alte Großraumbüro nichts mehr zu suchen, so wenig wie die Einzelbankerkammer. Drei bis vier Menschen werden in Einheiten sitzen, die durch Glaswände voneinander getrennt sind. Man sitzt beieinander und sich dennoch nicht auf der Pelle. So ähnlich ist wohl die Philosophie der Gemeinschaftsarbeit im kommenden Jahrtausend zu verstehen.

Doch das ist alles Zukunftsmusik. Noch brütet niemand über Kontoauszügen, Aktienpaketen und Devisenpapieren. Erst Mitte 1997 werden die ersten Commerzbanker in ihren 34 zur Zeit über die gesamte Stadt verteilten Abteilungen ihre Akten packen und sich an den Umzug ins neue Haus machen.

Bis dahin arbeiten hier andere. Knapp 800 sind es zur Zeit; sie kommen aus einem guten Dutzend Ländern und sind beschäftigt bei etwa 50 Firmen. Sie arbeiten meist von frühmorgens bis Mitternacht. "Daß wir hier rund um die Uhr schaffen, ist ein Gerücht, das immer durch die Medien geistert", sagt Rainer Sedlaczek, der Bauleiter, "keine Ahnung, wer das in die Welt gesetzt hat." Er ist ständig im Haus anzutreffen, rattert in einem der zugigen Drahtkorb-Lifts außen an der Fassade auf und ab, schnattert in sein Funkgerät und hat immer noch Zeit, den Fahrstuhlführer mit der Windjacke, auf der in großen Stickbuchstaben "Windsurfing" steht, auf hessisch anzuschnoddern: "Kerle, naa, brems' doch e bissje langsamer." Doch Hektik verbreitet er keine, getreu seiner Devise: "Die Mannschaft muß ruhig sein, nur dann läuft's."

Besondere Besonnenheit verlangt Sedlaczek von vier Männern. Sie wechseln sich ab, arbeiten in zwei Schichten und haben ständig alles im Blick - die Kranführer. "Das ist ein besonderer Menschenschlag", sagt der Bauleiter. "Sie werden nie einen Kranführer über die Baustelle rennen sehen."

Stimmt. Langsam, bedächtig, groß und mächtig, rote Haare, blaue Augen - das ist Ernst Kämer, 51, Kranführer. Ohne ihn wäre es wohl nichts geworden mit dem höchsten Haus Europas. Morgens früh oder am Nachmittag gegen drei rattert er mit einem der Außenaufzüge hoch. Im 50. Stock balanciert er über einen kleinen Steg, hinüber zu seinem Kran. Dann beginnt der eigentliche Aufstieg des Ernst Kämer. Auf einer schmalen Eisenleiter klettert er bedächtig immer höher. Eine halbe Stunde kann das schon mal dauern, besonders bei Regen und Sturm. Dann hat Ernst Kämer seinen Arbeitsplatz erreicht. Eine kleine, enge Kanzel, 265 Meter hoch über der Stadt Frankfurt. Er führt einen der höchsten Kräne der Welt, mit dessen 60 Meter langem Ausleger er bis zu 30 Tonnen heben kann. Acht Stunden lang sitzt Ernst Kämer da oben, blickt über Frankfurt, über den Taunus, den Odenwald, den Spessart. "Nee, alleine biste nicht", brummelt er, "hast ja über Funk Kontakt nach unten." Meist sieht er seine Last am Haken gar nicht, ist angewiesen auf die Kommandos seiner Kollegen unten.

Irgendwann, am späten Nachmittag, ganz oben. Eine kleine Plattform nur, umrahmt von jenen straff gespannten Stahlseilen, die Schutz bieten vor dem freien Fall 258 Meter und 70 Zentimeter tief hinab auf den Kaiserplatz, dorthin, wo seit Monaten die Menschen in die Luft gucken. Nur wenige Meter weiter oberhalb dieser Plattform sitzt Ernst Kämer in seiner Kammer und hebelt an seinen Armaturen. Es geht ein leichter Wind, und drüben auf dem Flughafen landen die kleinen Nachmittagsmaschinen, die die Geschäftsleute wieder von ihren Konferenzen aus München, Hamburg, Paris, London oder Brüssel zurückbringen. Sie werden gleich ins Taxi steigen, in die City fahren, in die diversen Hochhäuser eilen und berichten, was derTag so gebracht hat.

Plötzlich ist ein Klappern zu hören. Es kommt nicht von Ernst Kämer und seinem Kran, es kommt von unten. Auch Ernst Kämer blickt hinab, er hat das Fenster seiner Krankammer gekippt. Langsam arbeiten sich zwei Männer nach oben, außen an der Fassade. Sie stehen in einem breiten Korb, aufgehängt an eigentlich recht dünnen Seilen. Einer turnt außen auf dem Geländer herum, 258 Meter und 70 Zentimeter über dem Kaiserplatz, und hämmert Haken in die Wand.

Ullrich Pflüger heißt er, ein junger Mensch, 29 Jahre alt, kommt aus einem Dorf in der Nähe von Ulm. Er hat ein frisches, offenes, rosiges Gesicht, der Pflüger-Ullrich. Gar nicht so, wie man sich einen vorstellt, der im Moloch Frankfurt auf der Spitze des höchsten Gebäudes Europas herumturnt, um Befestigungshaken für die Fassadenverkleidung zu verankern. Jeden Montag fahren er und seine Kollegen im Kleinbus aus dem Schwäbischen hinauf nach Frankfurt. Ihre Firma hat draußen in Eschborn vor den Toren der Stadt Reihenhäuser für sie angemietet. Dort schlafen sie, und tagsüber hangeln sie sich an Hochhausfassaden entlang. Sie kriegen mehr Geld, natürlich. Einen Höhenzuschlag - in der sagenhaften Höhe von drei Mark. Brutto und pro Tag.

Doch sonst ist hier oben fast alles perfekt. Fast. Nur dem Kranführer Ernst Kämer fehlt etwas. Er arbeitet auf dem höchsten und grünsten Haus Europas im modernsten Kran der Welt - doch keiner hat daran gedacht, dort oben eine Toilette zu installieren. "Du mußt deine Blase trainieren" , mosert Ernst Kämer, "nur so geht's. Kannste aber lernen."

Noch wird am spektakulären Neubau der Commerzbank in Frankfurt gebaut, geschraubt, gepinselt. Doch die 8000 Fenster sind schon drin.

Ein Gerüst, ein paar Stahlseile und dann 260 Meter nichts - wer sich hier oben weit aus dem Fenster lehnt, hat keine Angst, tief zu fallen. Dafür sind die Aussichten prächtig.

Ullrich Pflüger montiert die neuartige Fassade des Hochhauses. Was wie seine Modelleisenbahn aussieht, ist, 260 Meter unter ihm, die Frankfurter City. Die Büros (unten links) sind bezugsfertig, und auch in der Eingangshalle (unten rechts) fehlt nur noch das Grünzeug. Die Frankfurter Skyline (oben rechts) hat einen neuen Höhepunkt.

Hinter der Glasfassade lassen sich - Sensation für solch ein Hochhaus - alle Fenster einzeln öffnen.

Unter seinesgleichen ist der Hauskoloß ein Leichtgewicht: Er wiegt nur 200 000 Tonnen.


Zeitmagazin Nr 45, 1. November 1996, p21