Kreativer Juckreiz

Die Harmonie von Konstruktion und Zufall - Ein Portrait des britischen Architekten Nicholas Grimshaw

Von Till Briegleb


Das Skelett eines Hauses weckt selten sinnliche Assoziationen. Denn das ewig gleiche Geschossestapeln aus Stahlbeton, dem erst das Anfügen einer Fassade aus Glas, Klinker oder Naturstein die persönliche Würde verleiht, gleicht sich im Rohbau doch meist bis zur Monotonie. Die Freiheit des Grundrisses verursacht die Langeweile des Wachstums, Berlins Baustellen beweisen es.

Da verwundert es nicht, daß die Struktur der neuen Industrie- und Handelskammer an der Fasanenstraße die Gemüter seit einigen Monaten bewegt und die berühmte Phantasie des Berliners beim Erfinden von Spitznamen herausfordert. Mit Vergleichen aus dem Reich der Biologie wie "Saurier", "Gürteltier" oder "Geldbuckel" versucht er sich der ungewöhnlichen organischen Form anzunähern, die der britische Architekt Nicholas Grimshaw dem Gebäude zugedacht hat. Monströse grüne Stahlträger in Gestalt eines riesigen Brustkorbes oder eines umgeworfenen Bootsskeletts wölben sich dort in den Himmel von Berlin: Ende 1997 wenn das Ludwig-Erhard-Haus, wie sein offizieller Name lautet, fertiggestellt sein wird, überzieht diesen geschwungenen Dachrücken
eine silbrig glänzende Haut. Dann wird eine ganz neue Gefühlsfarbe in die deutsche Hauptstadt einziehen, und es wäre schön, wenn der Ruhm, der dann von dem eigenwilligen Haus auf seinen Erfinder abstrahlen dürfte, sich nicht nur auf die Attraktion der High-Tech-Organik, sondern auch auf die Philosophie begründet, die dahinter steht.

Denn es ist nicht der Schrei nach Applaus, der den Architekten umtreibt. Grimshaw gehört vielmehr zur Opposition jener Kollegen, die formell spazierendenken. Als ein "humanistischer" Baumeister, der ebensoviel Ingenieur wie Architekt ist, versucht er immer, die Architektur als dienende Kunst sowohl im Praktischen wie im Schönen konsequent zu Ende zu arbeiten. Und deswegen auch wünscht er sich seinen 160 Millionen Mark teuren Neubau, der seit kurzem schon die Berliner Börse beherbergt, als ein kräftiges Symbol dafür, daß die Stadt nicht den Investoren gehört, die sie bauen, sondern den Menschen, die darin wohnen. Gläserne Transparenz auf Augenhöhe der Passanten, eine Öffnung des Gebäudes mit einem internen Weg und die MögIichkeit, den Börsianern von der Straße bei der Arbeit zuzusehen, sollen dem Ludwig-Erhard-Haus jene einladende Atmosphäre geben, die Grimshaw bei den Berliner Steinbauten so schmerzlich vermißt.

Die Begegnung mit dem Architekten, der neben den architektonischen Verdienstadligen Richard Rogers und Norman Foster der wichtigste Vertreter der britischen High-Tech-Architektur ist, legt schnell die menschliches Fundamente seiner Haltung zum Bauen frei. Lachende Augen, die kleine Krähenfüße gegraben haben, ein warmherziger Ton und die offene, bescheidene Art, mit der Nicholas Grimshaw über sich und seine Arbeit spricht, vermitteln sofort das Gefühl, daß dieser Mann bei seiner Arbeit weder Probleme mit Kritik noch mit übermäßiger Eitelkeit hat.

Dabei würde man Nicholas Grimshaw eine gewisse Entrücktheit durchaus verzeihen. Als Architekt des Londoner Bahnhofs für den Kanaltunnel- Zug Eurostar, der in die alte Waterloo Station eingefügt wurde, hat er ein Bauwerk entworfen, das Architektur und Ingenieurkunst mit einer prachtvollen Brosche verknüpft. Die 1993 fertig-gestellte, 400 Meter lange Bahnhofsschlange aus filigranen blauen Stahlträgern und einer Schuppenhaut aus Glas und Aluminium schlägt einen Bogen zu den Anfängen großer Ingenieurarchitektur, zu Joseph Paxtons Crystal Palace von 1851. Wer einmal diesen herrlichen langgestreckten, sanft gebogenen und lichten Raum erlebt hat, hin- und hergerissen zwischen der Sogwirkung, unter dem freundlichen Skelett hindurchzuschreiten, und der Lust, sich einfach niederzulassen, um mit den Augen zu schmachten, versteht leicht, warum viele Londoner Pensionäre ihre müßige Zeit damit verbringen, von einer Plattform des alten Bahnhofs aus in diese neue Halle hinüberzusehen. Dieses Bauwerk ist monumental, ohne Beängstigung auszulösen, verspielt, ohne technisch die Muskeln zu zeigen, kraftvoll bei Wahrung des menschlichen Maßstabs.

Die Antwort auf seine architektonische Primärfrage - "Was leistet ein Gebäude für die Menschen, die darin arbeiten oder leben?" - hat Grimshaw schon in seiner Studienzeit gefunden, wie der jüngst erschienene zweite Band seiner Monographie beweist, der sich mit den Anfangsjahren seiner Tätigkeit auseinandersetzt. Mit lediglich vier Bauten in den siebziger Jahren erwarb er sich den Ruf eines Industriearchitekten, der unter Einhaltung auch der engsten finanziellen Beschränkungen Nutzbauten entwerfen kann, die sowohl den Ansprüchen der Firmen, ihrer Arbeiter wie der Kunst genügen. Grimshaw erfüllte die alte Weisheit, daß Genialität nur im Finden der einfachsten Lösung besteht, mit dem überaus simplen Konzept der undekorierten, leeren Kiste. Austauschbare Wände, Böden und Fassadenteile gewährten den Auftraggebern die freie Wahl des Grundrisses und der Nutzung. Diese enorme Flexibilität mußte natürlich jeden Kapitalgeber entzücken. Aber nicht weniger Konzentration verwandte Grimshaw darauf, in die traditionell dunkel-depressiven Gewerbekisten Licht und Freundlichkeit einziehen zu lassen. Mit der Fassade der Möbelfabik Herman Miller 1976 in Bath, die aus vorfabrizierten Wandpanelen bestand, die es erlaubten, an jeder Stelle des Gebäudes Wände und Fenster zu tauschen, erwarb sich Grimshaw die Anerkennung als Fachmann für eine menschliche Moderne.

Hätte nun sein operatives Geschick über fehlendes künstlerisches Empfinden hinwegtrösten müssen, wäre er wohl nur im Schneckentempo seiner ersten fünfzehn Jahre selbständiger Tätigkeit vorangekommen - genau auf sechs Bauten beziffert sich die ganze Ausbeute zwischen 1965 und 1979. Doch sein geistiges Familienerbe lieh dem Studenten, der erst Mathematiker, dann Ingenieur werden wollte, bevor der kreative Juckreiz ihn zur Architekturfakultät trieb, ausreichend abwechslungsreiche Inspiration. Sein Vater arbeitete als Flugzeugkonstrukteur, von seinen Großvatern war der eine Ingenieur, der andere ein berühmter Arzt im öffentlichen Gesundheitswesen, der die Kanalisation unter Dublin plante. Und schließlich gab es da noch den Verwandten Atkinson Grimshaw, einen viktorianischen Maler, dessen Vorliebe für mondbeleuchtete Bilder sich in seines Nachfahren Begeisterung für Aluminiumverkleidungen dezent widerspiegelt.

Erstaunlich an Grimshaws Ästhetik ist zuerst das unvermittelte Auftreten. Denn Ende der Sechziger, als er mit einem Service-Turm für ein Studentenwohnheim und einem Wohnhaus debütierte, zogen die Menschen mit Schlaghosen, bunten Hemden mit Tragflächenkragen und langen Koteletten zu psychedelischen Kulturereignissen und entdeckten die Selbstverwirklichung und die Sanftheit. In der Architektur flackerten die Visionen zwischen den Utopien von Archigram mit ihren "Walking Cities" und dem Hyperrationalismus des italienischen Superstudios.

Und Grimshaw? Er entdeckte die zeitlose Eleganz. Sein Wohnkomplex am Regent's Park, ein Kubus mit runden Ecken und horizontaler Gliederung in Fenster- und Aluminiumbändern, wirkt wie eine Erfindung der Neomodernisten der neunziger Jahre. Gleichzeitig erkennt man darin unzweifelhaft die Konstanten seiner künstlerischen Vorlieben wieder: schlichte Struktur, Leichtigkeit und Transparenz, unbedingten Willen zum zeitgenössischen Bauen, der aber gleichzeitig die Einordnung in den vorgegebenen Maßstab verlangt, und Eleganz im Detail. Das einzige, was der damaligen Zeit entsprach und was Grimshaw als eine Art fromme Erinnerung an seine Jugend weiter mit sich herumschleppt, sind die abgerundeten Ecken, die auch heute noch in vielen Entwürfen des Büros vorkommen.

Auch wenn Grimshaw in der Tradition der Moderne darauf besteht, daß es "in keinem unserer Gebäude irgend etwas gibt, das absichtlich ohne Funktion geformt wurde", so weist der anatomische Atlas seiner Architektur inzwischen doch einiges an Prachtentfaltung auf. Aus dem reduzierten, dennoch stilvollen Aussehen der undekorierten Kisten sprießt seit etwa zehn Jahren ein gewisser technischer Barock der Streben, Züge, Rohre und Balkone. Das konstruktive Detail wird Symbol einer Architektur des Skeletts. Hier trifft man auf einen zentralen Aspekt in Grimshaws architektonischem Denken: die Harmonie von Konstruktion und Zufall. Der begeisterte Segler beschreibt das so: "Mir gefällt es, wenn Bauwerke so auf das Leben reagieren wie ein Boot auf den Wind," Das Leben - oder der Zufall -, das sind sich ändernde Nutzungen oder bautechnische Verbesserungen ebenso wie die zufällige Beschaffenheit des Bauplatzes. Und die Konstruktion muß hier zwischen den Anforderungen an ihre Beständigkeit Raum lassen für das Ungewisse, das Austauschbare, den Wechsel von Teilen und Funktionen. Auch im Sinne der Ressourcenschonung besteht Grimshaw auf der Möglichkeit heutiger Architektur, sich an die ökologischen Anforderungen der Zukunft anzupassen.

Immer wieder weist Grimshaw explizit darauf hin, daß seine Gebäude auch andere Inhalte aufnehmen können müssen: Eine Börse muß auch ein Kino werden können, ein Büro- ein Wohnhaus oder ein Druckereigebäude eine Kunsthalle. Er selbst nennt dies die "Unbestimmtheit von Gebäuden" und findet für dieses Konzept hoher Flexibilität in seiner Architektur immer wieder zwei Metaphern: das tierische Skelett und das Schiff (alternativ: das Flugzeug), also die eigentlich bewegliche Konstruktion - das Ludwig-Erhard-Haus an der Fasanenstraße bildet den vorläufigen Höhepunkt dieser Ingenieurslyrik.

Segelmasten, an denen Gebäude aufgehängt sind, finden sich seit Mitte der Achtziger (Eissporthalle Oxford, 1984), doch manifest wird Grimshaws Symbolik in den Neunzigern. Sowohl das Zeitungsgebäude der Western Morning News in Plymouth als auch ein Automobilzentrum in Bristol sind gläserne Schiffe auf dem Trocknen.

Doch selbst in seiner verspieltesten Form, wie beim britischen Pavillon für die Weltausstellung 1992 in Sevilla, ist Grimshaws Handschrift noch akkurat und schnörkellos. Bei diesem Ausstellungsgebäude entsteht der Eindruck gezähmter Wildheit zudem durch den experimentellen Charakter der Klimatechnik an der Fassade. Eine fließende Wasserwand, Tanks, Segel und Sonnenkollektoren versuchen, auf dem zeitgenössischen Stand der Technik die traditionellen Kühlungstechniken in der heißesten Stadt Europas nachzuahmen. Sein erstes Gebot, "den Faktor Menschlichkeit an allen Arten von Gebäuden immer neu zu überprüfen", hat über die dreißig Jahre Praxis und trotz des Aufstiegs zu einem der gefragtesten Architekten der Welt nicht die Wandlung einer Glaubensregel durchgemacht, die so lange gebeugt wird, bis sie ihr Gegenteil gleich mit meint. Auch wenn das Büro Nicholas Grimshaw & Partners inzwischen von Golf- bis Flugplätzen, vom Gewächshaus bis zur Kunsthalle alle Formen des Hochbaus praktiziert, bleibt es Grimshaws Maxime, "Gebäude zu entwerfen, deren Innenräume genauso interessant sind wie die Außenhaut". Und dabei macht er in der Wertigkeit keinen Unterschied, ob ein Büro nun von einem Buchhalter oder einem Prokuristen bezogen wird. Sein Verständnis vom demokratischen Bauen meint, daß absolut jeder, der in einem von ihm entworfenen Haus arbeitet oder lebt, in den Genuß von Schönheit und Wohlbefinden kommen soll.

Die zweibändige Monographie (der erste Band verfaßt von Colin Amery, der zweite von Kenneth Powell und Rowan Moore) macht diese Entwicklung Grimshaws mit Einführungen, Projektbeschreibungen und Interviews überaus anschaulich. So unprätentiös und präzise, wie Grimshaw spricht und arbeitet, sind auch diese Bände gestaltet. Der Anspruch seiner architektonisch-philosophischen Betriebsberatung, daß Architektur Öffnung und nicht Abschottung bedeuten sollte, läßt sich immer wieder beispielhaft belegen. Etwa beim Redaktionsgebäude der Western Morning News, das, rundum verglast und innen um ein Atrium mit Tageslicht gruppiert, den schlechten Arbeitsplatz unauffindbar macht. Oder bei seinem preisgekrönten Entwurf für das Druckgebäude der Financial Times in den Londoner Docklands, mit dem seine Prinzipien 1988 weltbekannt wurden. Zwar ist die Financial Times inzwischen ausgezogen, aber auch die neuen Arbeiter werden sich an der 96 mal 16 Meter langen Aussicht freuen, die ihnen Grimshaw ermöglicht hat.

So zeitgenössisch und praktisch sein Denken über Architektur sich umsetzt, so frei sind auch seine städtebaulichen Entwürfe von imperialen Gesten und von der Verameisung der Stadtbewohner. Respekt vor der vorgefundenen Stadt und Dialog der Zeiten im menschlichen Maßstab sollen nach Grimshaws Vorstellung die Stadtplanung - gerade in Berlin - leiten.

"Stadtentwicklung im großen Maßstab ist stets erfolglos. Ich glaube nur an den Entwurf der Stadt als Reparatur, als Integration. Und dabei sollte man sehr, sehr sorgsam damit umgehen, wie Menschen eigentlich leben. Das heißt auch, daß Linien und Straßen da sein sollten, wo sie immer waren." Die Suche nach einem "archäologischen Raster" und Anknüpfungspunkten in der Vergangenheit will Grimshaw aber nicht als Rechtfertigung für jene banalen Rekonstruktionsversuche mißverstanden wissen, die so viele Berliner Architekten momentan erfolgreich praktizieren. "Jedes Haus soll für sich selber kämpfen!" lautet sein Schlachtruf für eine selbstbewußte Architektur.

Gefragt nach seinem größten unerfüllten Wunsch, hält Nicholas Grimshaw noch eine abschließende Überraschung parat. Freudig richtet er sich in seinem Sessel auf wie ein Kind, das seine Geburtstagswunschliste vorlesen darf, und erklärt: "Wenn es einen Platz auf der Welt gibt, an dem ich gerne einmal ein Gebäude errichten würde, dann ist es an der Wasserseite von Hamburg." Es würde ihr guttun.

Die Monographien über die Arbeit des Büros Nicholas Grimshaw & Partners heißen "Architektur, Industrie und Innovation", von Colin Amery, und "Struktur, Raum und Haut", von Powell/Moore, und sind lm Berliner Verlag Ernst & Sohn erschienen.


Freundliche Monumentalität: der Londoner Bahnhof für den Kanaltunnel-Zug
 


Das Berliner "Gürteltier": Neubau der Industrie- und Handelskammer im Modell. Eröffnung Ende1997
 


Schnelligkeit durch Intelligenz: Möbelfabrik Vitra in Weil; entworfen, gebaut in sechs Monaten


DIE ZEIT Nr. 49, 29. November 1996, S. 52