Unsere Vergangenheit ist flüchtig, und wir verändern sie jedesmal, wenn wir uns an sie erinnern. Das behauptet der amerikanische Psychologe John Kotre in einem neuen Buch


So war es! War es so?

Unser Gedächtnis vermengt Wahres, Gehörtes, Erträumtes zu immer neuen Geschichten

Von Iris Mainka


Der Geruch von nassen Blättern an einem Herbstmorgen... Der Klang einer Schulglocke, im Vorbeigehen aufgeschnappt... Der Geschmack von Schokolade mit Orangenstückchen... Jeder kennt solche Signale, die eine Flut von Erinnerungen auslösen. Kein Wunder, daß wir uns das autobiographische Gedächtnis als eine Art Archiv vorstellen. Menschen, Orte, Dinge, Ereignisse und Gefühle, die in die Lebensgeschichte eingehen, stecken irgendwo da drin - manches vorne, anderes weit hinten. Und wenn man nur das Stichwort findet, kommt jede Erinnerungsakte wieder zum Vorschein.  Das Gedächtnis und die Uhr
Zeichnung: Ulrike Mohrmann
 


Erinnerungen, die falsch sind, fühlen sich genauso an wie die echten

Eine einleuchtende Vorstellung. So oder ähnlich denken die meisten Laien, behauptet der Amerikaner John Kotre in seinem eben auf deutsch erschienenen Buch "Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt". Menschen jeden Alters glauben an die Dauerhaftigkeit von Erinnerungen: Auch Dinge, an die sie sich nicht bewußt erinnern können, halten sie lediglich für verschüttet oder verdrängt; eine Hypnose, eine Psychotherapie, die entsprechende Frage- oder eine Meditationstechnik könnten auch Vergessenes wieder freilegen - in seiner echten, ursprünglichen Form. So oft ist diese Freudsche Sichtweise unseres Gedächtnisses in Büchern, Filmen, Fernsehspielen reproduziert, daß sie zu unserem Alltagswissen zählt. Aber stimmt sie auch?

Nur zum Teil, sagt Kotre, der an der Universität von Michigan-Dearborn Psychologie lehrt. Seit Jahren befaßt er sich mit der erzählten Wahrheit fremder Lebensgeschichten und den Ergebnissen der Hirnforschung. Und die haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem gezeigt, daß unser Gedächtnis eher interpretiert, als faktengetreu wiedergibt. Es funktioniert eben nicht wie ein Videorecorder, der auf Knopfdruck brav abspult, was er einst aufgezeichnet hat. Vielmehr schreibt das Gedächtnis das Drehbuch unseres Lebens fortlaufend um, es streicht, fügt hinzu und versieht, aus dem Blickwinkel der Gegenwart heraus, längst vergangene Szenen mit neuer Bedeutung: Womöglich erinnern wir uns im Alter von zwanzig an ein Ereignis aus unserer Kindheit ganz anders als mit vierzig. Denn unser Gedächtnis arbeitet im Dienst des menschlichen Bedürfnisses, dem Lebensweg einen erzählbaren Sinn zu geben. Offenbar ist es dabei anfälliger für Suggestionen, als wir bisher glauben wollten.

Zum Beispiel kann man jemandem durchaus eine falsche Erinnerung einpflanzen. Der Psychologin Elisabeth Loftus gelang das in einer vielzitierten Pilotstudie bei dem vierzehnjährigen Chris. Nachdem ihm sein älterer Bruder erzählt hatte, daß er im Alter von fünf Jahren einmal in einer Einkaufspassage verlorengegangen sei und man ihn dann in Begleitung eines alten Mannes wiedergefunden habe, begann Chris, diese erfundene Geschichte seiner Erinnerung einzuverleiben. Lebhaft schilderte er einige W ochen später, welche Angst er damals empfunden hatte; daß der alte Mann nur noch wenig Haare gehabt, ein blaues Hemd und eine Brille getragen habe. Chris hielt diese Erinnerung für echt. Als man ihn nach einiger Zeit fragte, welche von all den Geschichten, die man ihm im Rahmen der Untersuchung erzählt hatte, erfunden gewesen sei, tippte der Vierzehnjährige, ebenso wie die vier anderen Versuchspersonen, auf eine wahre Geschichte.

Das ist typisch dafür, wie unser Gehirn funktioniert. Es vermischt unwillkürlich erlebte mit erzählten Dingen, ein Phänomen namens Kryptomnesie: Ein Bild, das der Erinnerung durch ein Photo oder die Worte eines anderen eingegeben wurde, scheint plötzlich einer eigenen unmittelbaren Erfahrung entsprungen zu sein, schreibt Kotre. Die wirkliche Quelle geht verloren. Auch wenn sich eine Erinnerung lebendig und detailreich präsentiert, läßt sich daraus keineswegs schließen, ob sie kryptisch eingepflanzt wurde oder nicht: "Falsche Erinnerungen sehen genauso aus und fühlen sich genauso an wie echte."

Eine Art unfreiwilliges Experiment, das nicht aus dem Labor eines Forschers stammt, ergab sich in den USA während der Watergate-Affäre. Damals, im Juni 1973, sagte ein Zeuge, John Dean, vor dem Untersuchungsausschuß des Senats über ein Treffen mit Präsident Richard Nixon aus, das neun Monate zurücklag. Wegen seines genauen Erinnerungsvermögens nannte die Presse Dean gar ein "menschliches Tonbandgerät". Wenig später entdeckte man, daß bei dem Treffen mit Nixon tatsächlich ein Tonband mitgelaufen war. Es stellte sich heraus, daß der Zeuge sich vor Gericht an manche Einzelheiten der Unterredung "erinnert" hatte, die sich bei dieser Gelegenheit gar nicht zugetragen hatten. Spätere Ereignisse und Einsichten waren, auch für Dean selbst unmerklich, in seine Erinnerung eingeflossen; er hatte die eigene Rolle geschönt und im Verlauf von neun Monaten Phantasie und Wirklichkeit miteinander verquickt. Viele Details erwiesen sich als falsch. Im Kern freilich stimmte Deans Aussage.

Aber wann können wir uns auf unser Gedächtnis verlassen? Eine Frage, die vor Gericht von entscheidender Bedeutung ist. In den USA gibt es darüber einen erbitterten Glaubensstreit, den war over memories. Er tobt vor allem um das Phänomen wiedererlangter Erinnerungen an sexuellen Mißbrauch in der Kindheit. Können Menschen jahrzehntelang verdrängen, was ihnen als Kind angetan wurde? Und: Genügt die wiedergefundene Erinnerung einer einzelnen Person, einen anderen Menschen ins Gefängnis zu bringen?

Kotre berichtet von aufsehenerregenden Fällen, die vor amerikanischen Gerichten verhandelt wurden, und referiert die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Aber er bezieht, was nach dem derzeitigen Stand der Forschung nur vernünftig ist, weder für die eine noch für die andere Seite Stellung. Der Psychologe zweifelt nicht daran, daß traumatische Erlebnisse, wie sie ein Mißbrauch bedeutet, tatsächlich einen Gedächtnisverlust auslösen können. Doch er schließt ebensowenig aus, daß "Therapeuten, die in der Vergangenheit ihrer Klienten nach Anzeichen für Mißbrauch suchen, suggestiv vorgehen: ,Ihre Symptome legen den Verdacht nahe, daß Sie als Kind mißbraucht worden sind. Was können Sie mir darüber sagen?'" Auf diese Weise könnten auch Phantom-Erinnerungen unserem Geist eingepflanzt werden und dann zum Beispiel, wie verdrängte Erinnerungen, krankmachen. Das ernüchternde Fazit: Mit allgemeinen Antworten kann man im Einzelfall verheerend falsch liegen. Ein Gericht muß immer beide Möglichkeiten in Betracht ziehen und darüber hinaus nach objektiveren Beweisen suchen, als das Gedächtnis sie zu bieten vermag.

Auch das Erinnerungsvermögen eines Erwachsenen arbeitet dann am zuverlässigsten, wenn es möglichst wenig unter Druck gesetzt wird. Um so mehr gilt das für Kinder, die als Augenzeugen oder Opfer eines Verbrechens befragt werden. Kotre erklärt in seinem Buch, wie sich das autobiographische Gedächtnis im Verlauf der Entwicklung des Gehirns Schritt für Schritt ausprägt. Kinder im Vorschulalter etwa können eine Gedächtnisspur kaum bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen und behaupten, Dinge gesehen zu haben, von denen sie in Wirklichkeit nur gehört haben. Sie sind äußerst beeinflußbar durch die Art und Weise, wie man sie befragt. Ältere Kinder im Alter von fünf bis sieben berichten schon weitaus sicherer über ihre Erlebnisse. Doch auch der Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte sinkt mit jedem Mal, bei dem sie sie erzählen müssen. Das ist bei Erwachsenen kaum anders. Am Ende haben wir uns selbst von dem überzeugt, was wir immer wieder zum Besten geben: Die Schulzeugnisse waren tadellos, die Pointen einer gern erzählten Anekdote sitzen unglaublich perfekt, und den Partner, von dem wir inzwischen getrennt leben, glauben wir rückblickend niemals wirklich geliebt zu haben. Die mythenbildende Kraft von Erinnerungen scheint grenzenlos.

Einer Art Selbstsuggestion ist auch John Kotre mit den weißen Handschuhen erlegen, die seinem Buch den seltsamen Titel gaben. Der Autor sieht sie im Geist vor sich: weiße Seidenhandschuhe, die sein Großvater eines Tages zusammen mit der Klarinette auf den Dachboden trug, um damit einen Schlußstrich unter seine Karriere als Musiker zu ziehen und fortan einem sichereren Broterwerb nachzugehen. Der Enkel hat diese Handschuhe niemals gesehen. Er kennt sie nur aus Erzählungen seines Vaters. Dennoch tauchen sie in einer Krise seines eigenen Lebens plötzlich in seinem Gedächtnis auf und werden für ihn zu einem ermutigenden Symbol, seinerseits einen Neuanfang zu wagen.

Für Kotre sind die Handschuhe ein besonders einleuchtendes Beispiel dafür, wie wir aus der Fülle unserer Erinnerungen fortwährend Szenen und Symbole herausfiltern. So versichern wir uns bis ins hohe Alter hinein immer wieder unseres Ichs und versuchen, die Bilder unserer Biographie zu einem möglichst sinnvollen Puzzle zu fügen. Notfalls auf Kosten der Wahrheit.

John Kotre: "Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt". Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert; Carl Hanser Verlag, München 1996; 320 S., 39,80 Mark


DIE ZEIT Nr. 37, p. 81, 6.9.1996