... genauer in Krakau, Stanislaw Lem - Mediziner, Physiker, Philosoph und Autor berühmter Science-Fiction-Romane mit Millionenauflagen, in 35 Sprachen übersetzt. Ein zentrales Thema von ihm ist die Frage nach dem Glück: Kann man es beeinflussen? Muß man das Fenster immer ein bischen offen halten, daß das Glück auch reinfliegen kann?


Stanislaw Lem: Der glückliche Kosmos


(Sphärische Klänge, Bilder vom VW-Bulli des Kamerateams)

An einem Julitag gegen Ende des zweiten Jahrtausends brach die Expedition von ihrer Bodenstation auf. Der Auftrag lautete: Interstellare Reise zu einer fremden Intelligenz. Zweifel, daß es auch außerhalb unseres Systems intelligente Wesen gäbe, waren zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend ausgerottet. Das Exkursionsmodul war mit einer Reihe von Experten besetzt, deren Aufgabe es war, jene fremde Intelligenz zu erforschen. Vor allem sollte auf diesem Weg auch Datenmaterial gewonnen werden, das Rückschlüsse auf die gegenwärtige Situation der terrestrischen Zivilisation im Kosmos zuließ.

In einem weit zurückliegenden Zeitalter im versunkenen Universum von Gallizien. Hier beginnt das andere Ende der Geschichte - dort, wo Gallizien sein Zentrum hat. Über den Namen dieses Schauplatzes gab es widersprüchliche Angaben. Je nach den Kommunikationssystemen der verschiedenen Kulturen, die die Evolution dort hervorgebracht hatte. Eine Zivilisation, die die polnische genannt wird, bezeichnete den Ort als Wouf, und im Idiom der russischen hieß er Wof. Eine andere, bei uns lange Zeit unbekannte Kultur jedoch, die ukrainische, nannte ihn Wiff. In unserer Sprache hat sich die Bezeichnung Lemberg eingebürgert. Wenn wir allein diesen Namen verwenden, so geschieht dies nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern auch deshalb, weil dieser Name von den Experten für intergalaktische Semantik mittlerweile dechiffriert wurde. Lemberg bedeutet - soviel steht heute mit Sicherheit fest - Berg des Lem.

Lem: Das war meine Heimat, wissen Sie. Es war uns mehr als vierzig Jahre lang verboten, über andere Länder und Gallizien als unsere Heimat zu sprechen, aus welcher wir ... ich vertrieben worden sind, nicht wahr. Also es gab da viele Literaten, viele Schriftsteller, ein reges Kulturleben. Aber ich muß schon sagen: Damals war ich ja Gymnasiast. Davon wußte man rein gar nichts. Ich war als Fußballspieler damals im Gymnasium, sagen wir, bekannt und auch hat es damals eine Trennung gegeben der Geschlechter: Mensch ... Männer und Mädchen, nicht wahr im Gymnasium. Das waren Probleme, die mehr interessierten als verschiedene architektonische Wunder, die es dort gegeben haben soll. Solange ich nur in Lemberg wohnte, da konnte ich mit einer anderen - sagen wir österreichischen Hauptstadt - dieses Milieu überhaupt nicht vergleichen. Aber jetzt, als ... sozusagen hinterher, im nachhinein, habe ich bemerkt, wie ... daß gewissermaßen Lemberg eine verkleinerte Attrappe von Wien war.
Bevor der Lem-Kontakt zustande kam, hatte das Forscherteam sich erst seinen Weg durch die Tiefe des Universums bahnen müssen. Es war ein beschwerlicher Weg. Immer wieder zwangen Relikte urtümlicher Technologie den Astrogator zu abrupten Kursänderungen. Durch die zahlreichen Hindernisse auf der Flugbahn blieb die Reisegeschwindigkeit des Astromobils deutlich suboptimal. Manchmal war die Krümmung des Raumes so stark ausgeprägt, daß es auf der vorberechneten Bahn zu erheblichen Stößen kam, die den Insassen dieser Fähre durch Raum und Zeit mehr als einmal den Schweiß auf die Stirn trieben (Schlaglöcher). Und Sie waren keineswegs allein unterwegs. In einem hochtechnisierten Kosmos, in dem aus den einfachsten Dingen die größten Schwierigkeiten erwachsen konnten, wurde der Besatzung stets höchste Aufmerksamkeit abverlangt. Doch sie waren entsprechend trainiert, und sie setzten ihren Weg unbeirrt fort. Obwohl es der Mission nicht möglich war, mit Lichtgeschwindigkeit zu reisen, erreichte sie ihr Ziel nach der beachtlichen Zeit von vierzehn Stunden und siebenunddreißig Minuten. Mit dem Andocken an die Raumstation Orbit war die Crew schon fast am Ziel. Das Gravitationsfeld der Station gab ihren Füßen endlich wieder das Gefühl, auf festem Boden zu stehen. Die interessanteste Aufgabe stand dem Piloten und seiner Mannschaft jedoch noch bevor: Begegnung mit der fremden Intelligenz.
Die Männer trafen das geheimnisvolle Wesen bei der Arbeit an.
(Schreibmaschine klappert.)

Stanislaw Lem hat über 30 Bücher geschrieben. Seine Werke sind in 35 Sprachen übersetzt worden. Die Weltauflage beläuft sich auf annähernd 20 Millionen verkaufte Bände. Er hat auf seiner uralten Reiseschreibmaschine die utopischen Technologien künftiger Jahrhunderte beschrieben. Er hat Science-Fiction-Romane verfaßt und futurologische Grotesken erdacht, wissenschaftsphilosohische Bücher geschrieben und zeitkritische Essays. Bei der Beschäftigung mit Zukunftsthemen interessierte ihn nicht allein der technische Fortschritt. Ihn interessierte von Anfang an der Überlebensfaktor Phantasie. Das Unmögliche zu beherrschen - ein Kindheitstraum, der für Lem ein Leben lang bestimmend geblieben ist. In seinen Erinnerungen beschreibt er, wie er in Lemberg als zwölfjähriger seine unmöglichen Erfindungen machte.

(Aus dem Buch vorgelesen) Ich baute längere Zeit Rundfunkgeräte - Sende- und Empfangsstationen, die gar nicht funktionieren konnten und es auch nicht sollten. Wenn mich die aus alten Garnspulen, verbrannten Röhren und Kondensatoren, aus dickem Kupferdraht zusammengebastelten, mit einer möglichst großen Anzahl ernst aussehender Knöpfe und Knäufe versehenen, auf Brette oder in blecherne Teeschachteln montierten Apparate als naturalistische, nachahmende Kopien echter Radios in ihrem Äußeren nicht befriedigten, wenn sie mir nicht genügend imponierten, steckte ich in dem instinktiven Verlangen, ihre Wichtigkeit hervorzuheben, zwischen das kunstvolle Gewirr hier ein blinkendes Blech, da eine besonders gewundene Sprungfeder aus einem Wecker hinein, und ergänzte solange das gebastelte, bis mir ein unbekannter Sinn eingab, daß es nunmehr genug sei, daß die Pseudo-Apparatur in ihrem Aussehen meinen Anforderungen entsprach.
Genauso ist Lem beim Schreiben seiner phantastischen Romane vorgegangen. Sie sind wie spielerische Experimente, die die Glücksmomente der Kinderzeit noch erahnen lassen, auch wenn er in seinen Sprachspielen das Glück oft genug ironisch denunziert hat.
(Aus einem anderen Werk gelesen) Das Glück ist eine Krümmung, genauer gesagt die Expansion eines Metaraums, die Verknüpfung kollinear intentionaler Abbildungen und intentionalem Objekttrend, wobei Grenzwerte durch eine Omega-Korrelation bestimmt sind, und zwar in einem alpha-dimensionalen, damit natürlich nicht metrischen Kontinuum Subsolaggregate ate ate ...
Wie denkt Stanislaw Lem wirklich über das Glück?
Lem: Also das Glück kennen wir als etwas prinzipiell unerreichbares, wonach der Mensch strebt ... aber es läßt sich nicht verwirklichen. Es aufhört nach der Verwirklichung, Glück zu sein, nicht? Das wie ein ... in gewissem Sinne wie so ein Horizont. Sie wollen sich dem Horizont nähern, oder zu dem Regenbogen, aber niemals können sie tatsächlich diesen Punkt erreichen, es gibt ihn nicht. Aber Antalie, das ist sozusagen eine Hoffnung, eine Idee für die Menschen, die seit ihrem Entstehen wahrscheinlich aktuell wurde oder sie hat sie angezogen. Sie haben deswegen auch diese Mythen von dem goldenen Zeitalter, das es immer noch gegeben hat, erfunden und erdichtet und so weiter. Aber Hauptsache ist der Gegensatz von Glück und Unglück. Der besteht wirklich. Das ist so, daß es überhaupt keinen Boden, keine Nullgrenze gibt, das ist ... Wenn es schlimm ist, dann kann man sich sicher sagen: Es kann noch schlimmer werden. Mit einer einzigen Ausnahme: wenn man schon die Schwelle einer Gaskammer überschritten hat. Dann geht es schon ... ist es schon ganz schlimm, aber kurz.
Bedrohungen und Katastrophen spielen eine große Rolle in Lems Büchern, zum Beispiel in dem Roman Der Unbesiegbare, der auf dem dritten Planeten des Fixsterns Rigis im Sternbild der Leier spielt.
(Auszug, Lesung) Die Sonne stand schon ganz tief. In ihrem blutroten Licht tauchte vor der Maschine eine schwarze Wand auf. Wolkenähnlich übereinander geschichtet reichte sie von der Felsoberfläche tausend Meter hoch. Alles, was sich hinter ihr befand, war unsichtbar. Hätte die knäuelförmige, teils tintenblau gefärbte, teils in violettem Rot metallisch schimmernde schwarze Zusammenballung nicht langsam und rythmisch auf und ab gewogt, so hätte man sie für eine ungewöhnliche Gebirgsformation halten können. Unter den horizontal auftreffenden Sonnenstrahlen öffneten sich darin Höhlen, in denen es plötzlich unbegreiflich aufblitzte. Es wirbelten in wütendem Tanz Schwärme glitzernder schwarzer Eisenkristalle durcheinander. Mit einem Mal zuckte die zunehmende Dunkelheit im Tal in unheimlichem Lichtschein auf, schob sich rot, wie ein Vulkanschlund unter einer Explosionswolke, deckte sie mit bebendem Mantel das ganze Bild zu. Jetzt waren nur noch dunkle Schatten zu sehen, die miteinander verschmolzen und in deren Mitte das Feuer brodelte und fauchte. Die Wolkensubstanz, woraus sie auch immer bestehen mochte, war zum Angriff auf das fremde Flugzeug übergegangen.
Die Wolke in Lems utopischem Roman besteht - soviel sei hier verraten - aus intelligenten Kristallen, aus mikroskopischen Mikrochips sozusagen, die sich in einem fernen Jahrhundert auf einem fernen Planeten ohne menschliches Zutun entwickelt haben, und die nun für jede andere Form des Lebens eine tödliche Bedrohung bilden. Lem zeigt uns im Spiegel des Utopischen Romans ein Zerrbild der Gegenwart, die Technologie als Gefahr für die Menschheit. Können technische Lösungen der Menschheit aber auch Glück bringen? Können sie wenigstens Katastrophen abwenden? Oder sind Glückstechnologien von vornherein zum Scheitern verurteilt?
Lem: Mit der Technik ist es imgrunde genommen ganz ähnlich wie - sagen wir - mit der Schokolade. In Werbungsspots sagt man ... ein schönes Mädchen: Ach, Schokolade, Schokolade, ah ich möchte jetzt Schokolade essen, Schokolade bringt mir Gesundheit. Aber wenn ich sie nötigen würde, daß sie 20 Kilo Schokolade auf einmal ißt, dann würde das ein schlimmes Ende für sie bedeuten, nicht wahr. Also die Technik ist auch schon, also in einer solchen Sättigung in unserer Welt: Wir haben einen Autoinfarkt, wir haben ... also die Startzeiten auf dem Frankfurter Flughafen, also vor mehreren Jahren wahrscheinlich konnte man die Uhr nach den Startzeiten der Flugzeuge einstellen lassen, jetzt nicht mehr. Es gibt ein Gedränge. Rund um die Erde habe wir die Überreste der kosmischen Flüge, das ist schon eine große Gefahr für neue kosmische Flüge ... Also mit einem Wort: Wenn zuviel des Schlechten ... Zuviel des Guten ist zuviel des Schlechten. Technik eignet sich vielleicht besser zur Massenvernichtung des menschlichen oder überhaupt des biologischen Lebens als zur allgemeinen Beglückung. Die Beglückten sind ... verrücktester Technik spürt das nicht. Die Russen wollten sich mit Energie beglücken. Lenin sagte das: Elektrizität plus Sozialismus - das ist schon das Paradies. Ja, und dann haben sie also Tschernobyl. So enden diese Träume, nicht wahr, über das Schlaraffenland. Ich meine, daß man sich mit dem beschäftigen soll, was machbar ist. Machbar ist alles, was als Grund die Naturwissenschaften hat. Aber das ist immer so, da ist wahrscheinlich Gutes und Böses zusammen.
Lem hat sich immer dagegen gewehrt, als Technokrat bezeichnet zu werden. Er glaubt nicht, daß die Technik ein Allheilmittel sein kann. Ihn interessiert vielmehr die Entlarvung von falschen Glücksversprechungen, die nur in die Sackgasse führen. Die Demaskierung geschieht, wenn es sein muß, mit beißendem, höhnischen Spott. Lems Romanheld Ion Tychi erlebt den Kongress der Futurologen.
(Ausschnitt, Lesung) Ich betrat den Saal. Über dem Podium hing eine grün bekränzte Tafel mit der Tagesordnung. Punkt 1 behandelte die städtebauliche Weltkatastrophe, Punkt 2 die ökologische, Punkt 3 die atmosphärische, Punkt 4 die energetische, Punkt 5 die Ernährungskatastrophe, wonach eine Pause eingelegt werden sollte. Die militärische und die politische Katastrophe sollten am nächsten Tag erörtert werden, zusammen mit freien Wortmeldunngen. Jedem Redner standen 4 Minuten zur Verfügung - ohnehin ziemlich viel Zeit, wenn man bedenkt, daß 197 Referate aus 64 Staaten eingereicht worden waren. Um das Beratungstempo zu steigern, hatte man die Referate vor der Sitzung allein zu studieren, und der Vortragende selber sprach ausschließlich in Ziffern, und nannte so die wichtigsten Kapitel seiner Arbeit. Wir schalteten alle unsere Computer ein. Steinway Hazeltine von der USA-Delegation schockte sofort den Saal, indem er mit Nachdruck wiederholte three seven two one eleven that makes twentytwo, five nine and twentytwo, three seven one nine fifteen that makes again twentytwo and only twentytwo. Jemand stand auf und rief: 305 or maybe six, eighteen and four. Hazeltine parierte den Einwand blitzschnell, indem er erklärte, das ergebe - so oder so - twentytwo. Ich suchte im Codeschlüssel seines Referats und erfuhr, daß die Ziffer 22 die endgültige Katastrophe bezeichnete. Als nächster stellte der Japaner Chaiakawa das Modell des in seinem Lande konzipierten Hauses der Zukunft vor. 800 Stockwerke hoch mitsamt Gebärkliniken, Kinderkrippen, Tierparks, Museen, Kinos, Theater und Krematorien, auch an unterirdische Speicher für die Asche der Verstorbenen hatte man gedacht, Ausnüchterungs- sowie Berauschungsstuben, turnhallenähnliche Säle zur Ausübung von Gruppensex - ein Zeichen für die Aufgeklärtheit der Architekten, sowie Katakomben für unangepaßte Subkulturgruppen.
Obgleich er für die Zunft der Futurologen offensichtlich nicht viel übrig hat - das Glück oder Unglück der zukünftigen Menschheit ist auch das Hauptthema der neuesten Schrift von Stanislaw Lem.
Lem: Ich bin jetzt beschäftigt - natürlich - mit dem Gedankenexperiment des Auf- und Abfangens der demografischen Bombe. Wenn es wiederum - wie zur Zeit meiner Jugend - wiederum zwei Milliarden Menschen auf dem Erdball geben würde, könnte man noch sagen: Die Sache, das allgemeine Problem zu lösen, daß ungefähr alle an demselben Wohlstand partizipieren könnten. Von diesem Wohlstand aber bei sechs Milliarden, sieben Milliarden, bei zu erwartenden zwölf Milliarden - das ist unmöglich. Es gibt Mathematiker, und dazu Physiker, die sich damit belustigen, zu berechnen - sagen wir, daß im Jahre 3000 gibt es nur 2 cm² - also nur für zwei Zehen für jeden Menschen. Das ist Unsinn, um Gottes Willen, aber da gibt es kein Mittel. Wir können einen zweiten oder dritten Erdball nicht erbauen. Das ist unmöglich.
Der übernationale Zuschnitt von Lems Denken hat vielleicht eine wichtige Wurzel in seiner Herkunft. Drehen wir die Zeitmaschine noch einmal zurück. Stanislaw Lem wurde 1921 in Lemberg geboren. Diese Stadt war im kleinen ein Abbild des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn, zu dem sie über hundert Jahre lang gehört hatte. Polen, Ukrainer, Juden, Deutsche, Armenier, Griechen und andere Minderheiten brachten in Lemberg ein vielfarbiges kulturelles Klima hervor, dessen Ausläufer auch in Lems Kindertagen noch spürbar waren. Doch 1939 marschierten die Sowjets in Lemberg ein und 1941 kam die deutsche Wehrmacht. Und mit den Deutschen kamen überall in Osteuropa die Konzentrationslager, die Vernichtungslager. Lem erzählt, wie er als junger Mann davon erfuhr.
Lem: Ich habe nämlich über Kontakte mit einer Untergrundorganisation, sagen wir einen Marschbefehl bekommen. Ich sollte mich in das Ghetto einschleusen lassen mit einer Davidsternbinde unten am Arm, und dort sollte ich in ein bestimmtes Häuschen gehen und einen bestimmten Mann, der mich nicht kannte - ich weiß nicht auf welche Weise auch immer erkennen und diesen Mann haben die sozusagen die Juden aus dem Untergrund, diesem Ghetto sich bewegen lassen, mit welchen Mitteln weiß ich nicht Eisenbahn wahrscheinlich und dann unter einer Ladung von Kleider von Vergasten wurde er herausgeschmuggelt und er ist dort gewesen und mit eigenen Augen hat also uns auf einem Papierbogen gezeichnet, diese Wachtpostenketten, diese - ich weiß nicht ob es Gaskammern hatte gegeben, es mußte aber ein Krematorium ... ich erinnere mich so genau nicht. Ich habe das Papier einfach zusammengelegt. Ich habe an eine bestimmte Adresse weitergetragen. Also imgrunde niemand wollte daran glauben, daß so ein kultiviertes, kulturelles sympathisches Volk wie die Deutschen so etwas anstellen könnte wie etwa einen Völkermord. So daß man sagte, eh, es ist unmöglich, einfach.
Das Los eines Menschen kann viel bedeuten, das Los einiger Hunderter ist schwer zu erfassen. Aber die Geschichte Tausender, die einer Million bedeutet uns imgrunde genommen nichts.
1945 fiel Lemberg mit Ostgallizien an die Sowjetunion, und Lem wurde aus seiner Heimat vertrieben. Als 24-jähriger kam er nach Krakau.
Lem: Weiter waren meine Eltern verliebt, sehr in Lemberg verliebt. Also man, wir sind so lange dort geblieben, bis man uns sagte: Entweder ihr nehmt die sowjetischen Pässe, oder - eh - nach Polen. Also gab es keine Alternative. Man mußte ... Aus diesem Grund auch, daß wir so spät - eh - hierher gefahren sind, und wir sehr wenig mitnehmen können. Man mußte praktisch, sagen wir alle Möbel und sonstige Sachen dort bleiben. Also praktisch wir sind als sehr ... fast in einem Hemd nach Krakau gekommen. Also das ist ja reiner Zufall, daß ich so gut in Krakau sitze, ebenso gut in Patagonien, sicher ... Wo ich vertrieben wurde, ist es schon beidhändig ..., wo ich mich gefunden habe, nicht war.
Dabei hätte er gute Gründe gehabt, sich in der Stadt wohlzufühlen, die in früheren Jahrhunderten die Hauptstadt Polens gewesen war. Hier waren die polnischen Könige gekrönt und beerdigt worden, und selbst unter der österreichischen Fremdherrschaft im 19. Jahrhundert konnte in Krakau die polnische Kultur gepflegt werden. Auch die jüdische Kultur hatte im Chor der verschiedenen Traditionen ihre unverwechselbare Stimme erhoben. In Krakau, am westlichen Ende Galliziens, war noch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein eine ähnliche multikulturelle Atmosphäre lebendig gewesen wie in Lemberg. Vor dem zweiten Weltkrieg, vor dem Völkermord der Nazis, hatte die jüdische Bevölkerung ein Viertel der Bevölkerung von Krakau gestellt. Auch Stanislaw Lem hat jüdische Vorfahren. Er ist jedoch in einem assimilierten Elternhaus aufgewachsen, ohne Kontakt zu mosaischen Überlieferungen und Riten. Als er 1945 nach Krakau kam, waren dort vom Leben der Juden nur noch stumme Zeugen geblieben. An der Krakauer Universität hatte schon der querköpfige Astronom Nikolaus Kopernikus studiert. Sie gehört zu den ältesten in Europa. Hier beendete auch der junge Stanislaw Lem seine Studien. Im Umkreis der Jawilonen-Universität ist noch heute ein Ensemble von Meisterwerken der europäischen Architektur vergangener Jahrhunderte zu bewundern. Aber für Lem wog der unwiderrufliche Verlust der Heimat schwerer als die Schönheiten Krakaus. Stalinismus und Faschismus hatten ihn zum Außenseiter gestempelt. Seitdem lebt Lem wie ein Einsiedler in Krakau. Fast sein einziger Kontakt zur Außenwelt: der tägliche Zeitungskauf. In einem Krakauer Hotel deckt er sich jeden Morgen mit der internationalen Presse ein. Was liest er besonders gern? Wofür interessiert er sich?
Lem: Das Schlimme ist, daß mich mit der Ausnahme von Börsenangelegenheiten und Devisenkursen praktisch - und Sportnachrichten - praktisch alles interessiert. Aber ich bin auch dafür, aber ich interessiere mich auch dafür, wenn so ein McEnroe z. B. ich habe für den Mann eine gewisse Schwäche, wenn er so schrecklich beschimpft alle. Ich war auch, muß ich schon sagen, ich bin für diejenigen, die sozusagen nicht die erste Geige spielen, nicht wahr. Die Welt - das ist ein entsetzlicher Platz und die Menschen die sind eine entsetzlich unangenehme Erscheinung auf dem Weltmaßstab, aber dagegen ist wiederum kein Kraut gewachsen. Also ich lese, weil ich muß. Also ich sehe mir am Abend, sagen wir, den 3Sat, ARD, Skynews usw, also da gibt es nur Tote, Leichen, und der einzige Unterschied zwischen den Szenen aus den Filmen und den Nachrichten ist derjenige, daß das Blut, also in irgenwelchen Filmen das ist wahrscheinlich irgendwelche Himbeersoße. Das echte Blut das fließt in Sarajewo. So. (Zeigt) Penthaus. Quatsch.
Die bunten Glanzpapierblätter mit den Titelmädchen, die seit dem Einzug des Kapitalismus auch die polnischen Kioske füllen, findet Lem schrecklich, wie er sagt. New Scientist dagegen, eine amerikanische Zeitschrift mit den neuesten Erkenntnissen aus der Naturwissenschaft, ist heute nicht lieferbar. Sind die Bilder, die uns umgeben, nur ein künstliches Produkt der Technik? Oder sind sie wirklich Abbilder der Realität? Schon vor dreißig Jahren hat Lem auf diese Fragen, die uns heute bewegen, eine ganz Lemsche Antwort gegeben, indem er etwas vorhergesagt hat, was erst heute existiert, die sogenannte virtuelle Realität.
Lem: Ich nannte das Phantomatik von Phantom, von Phantomologie als allgemeine Theorie dieses Vorgehens, das ist das Erschaffen einer künstlichen Umwelt mittels des Ankoppeln, des Anschließens des gesamten menschlichen Sensoriums an einen Computer, der uns visuell und - eh - in allen Sinnen die fiktiven, aber solche Signale zuliefert, so daß man sich in einer fiktiven Realität befindet. Also ich ... jetzt in Amerika sind schon Bücher erschienen unter der Losung: Kann man denn mit einem Computer Sex haben? Nicht wahr, denn das ist das Wichtigste, das Interessanteste, nicht wahr? Na, also man braucht schon keinen reellen Menschen, menschliches Wesen als Kopulationspartner, sondern man kann vielleicht sogar mit der schönsten Frau der Welt, die ist nur aus bestimmten informativen Signalen zusammengeflickt.
Lem hat die Frage nach dem unechten Leben vor zwanzig Jahren mit einer weiteren, für ihn typischen Form behandelt, als Rezension über einen Roman, den es gar nicht gibt. Titel des fiktiven Werks: Being incorporated. Zu deutsch: Sein GmbH. Die gleichnamige Firma aus dem 21. Jahrhundert stellt ihre Unternehmensphilosophie folgendermaßen dar:
Alle Menschen streben nach Glück, doch auf verschiedene Weise. Für die einen ist Glück die Überlegenheit anderen gegenüber, Selbstständigkeit, eine Situation ständiger Herausforderung, des Risikos und des großen Spiels. Für die anderen ist es Unterordnung, Autoritätsglaube, das Fehlen jeder Bedrohung, Ruhe, sogar Trägheit. Die Forschungen haben ergeben, daß die aktiven und die passiven Personen in der Gesellschaft sich gewöhnlich die Waage halten. Das Unglück der früheren Gesellschaft war es jedoch, daß sie keine Harmonie zwischen den angeborenen Neigungen und dem Lebensweg ihrer Bürger herzustellen vermochte. Wie oft entschied der blinde Zufall darüber, wer siegen und wer unterliegen sollte. Die Tätigkeitsprinzipien der Being Incorporated entstammten nicht aus dem Nichts: Ehevermittlungscomputer bedienen sich seit langem ähnlicher Regeln beim Zusammenbringen von Ehewilligen. Being Incorporated garantiert jedem Kunden ein Lebensarrangement von der Volljährigkeit bis zum Tode gemäß den Wünschen, die er auf dem beigelegten Formular niederlegt. Die Firma arbeitet auf der Grundlage neuester kybernetischer, soziologischer und informatorischer Methoden.
In diesem Computerparadies herrscht das perfekte Glück - bis auf einen kleinen Schönheitsfehler: Die Menschen, die in ihm leben, wissen nicht, daß alles, was sie tun, vollständig manipuliert ist. Vor dreißig Jahren hatte Lem auch vorhergesagt, daß Eheschließungen nur noch durch Vermittlung von Computern zustande kommen würden. Diese Prognose ist nicht eingetroffen. Warum nicht?
Lem: Ja, also die Menschen sind natürlich ganz irrationale Wesen, nicht wahr. Und das ist irgendwie ... ich bin mir dessen bewußt, daß ich meine Frau, mit der ich schon seit 40 Jahren zusammenlebe, nicht wahr, für mich ist einer komplizierten Zufallskette kennengelernt habe. Aber die Ehevermittlung gibt es ja, um Gottes Willen, nur nicht für alle, nicht wahr. Aber vielleicht wird es sich mit der Zeit auch ändern. Ich weiß nicht. Aber ich weiß zum Beispiel, daß ich gern ... mehrere sehr nette und schöne Mädchen kannte. Aber vernarrt war ich in ein Mädchen, das ist jetzt meine Frau. Und auf die Frage, warum hat mir ein ... Mit Computer oder ohne Computer - das ist vollkommen unwichtig, irrelevant.
Stanislaw Lem jedenfalls lebt ohne Computer. Sein Lebensstil ist ganz traditionell. Nach dem Ende des Kriegsrechts in Polen hat er sich vor vier Jahren ein Haus gebaut. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat auch ihn überrascht. Nun tritt in vielen Bereichen der Überfluß anstelle des Mangels, vor allem, wie Lem sarkastich bemerkt, beim Satellitenfernsehen. Aber Lem, der Grantler, ist sich trotz aller Neuerungen treu geblieben.
Lem: (beim Rundgang durch seinen großen Garten) Die sind sauer, die sind wirklich sauer, diese Kirschen, absolut ungenießbar. Als Konfitüre nicht schlecht. Diese größeren nennt man Schattenmorellen, nicht wahr, so. Die haben wir leider nicht.
Die Zeit des Kommunismus in Osteuropa versteht Lem als ein gigantisches Menschheitsexperiment, als ein gescheitertes, gewiß, aber er sieht die Welt nicht in Schwarz-Weiß.
Lem: Kommunismus war schlimm! Aber das ist ja ... Mit Kommunismus das ist ein bischen so wie mit der Cholera: Es ist ja nicht so, daß man sagt: So, Cholera ist schlimm. Deswegen wir lieber uns die Pest wählen sollen. Auch die Marktwirtschaft hat ihre enormen Nachteile. Ich persönlich konnte mehrere Bücher verfassen, die ich sonst wahrscheinlich, in einem echt kapitalistischen, in einer solchen Marktwirtschaft schwerlich würde schreiben können. Ich müßte dann eine sehr reiche Unterstützung bekommen. Da gibt es eben diese Schattenseiten und diese positiven. Diese Schattenseiten waren sehr kostspielig: Es sollte an und für sich Millionen oder 60 Millionen Tote gegeben haben, das diese Erprobung hat uns gekostet. Aber das wurde nun verschwiegen und geleugnet einfach. Aber nach dem Sturz der Mauer in Berlin und so weiter gibt es immer weniger Beglückte. Das haben sie wahrscheinlich schon bemerkt in Deutschland.
Lem verfolgt von seinem Krakauer Vorort aus mit bissigen Kommentaren das Weltgeschehen, während er die Früchte seines Erfolges genießt, zu dem auch zahlreiche Verfilmungen das ihre beigetragen haben. An den meisten Verfilmungen fand der Autor jedoch keinen Gefallen. Nur Die Schichttorte, deutscher Titel Organitäten von Angei Waida hat vor seinem kritischen Urteil Bestand. Dieser Film gefiel ihm sogar weit besser als Tarkowskis berühmte Verfilmung von Solaris.

Lem: Der Mann, der das beste von mir gemacht hat, das war Angei Waida, das war Die Schichttorte, das habe ich für ihn ... Das ist ein Film von etwa 20 Minuten, und das ist vielleicht noch ein bischen aktuell, denn das handelt sich da um das Zusammensetzen eines unglücklichen Rennfahrers aus Prothesen, nicht. Dann ist er prothetisch schon ganz in Ordnung, aber er hat verschiedene Organitäten so wie Karten im Kartenspiel gemischt.

"Ah, Transplantation, ich verstehe. Aber was ich nicht verstehe ist, daß die Versicherungsgesellschaft nicht zahlen will."
"Ja, das verstehe ich auch nicht und das ist der Grund, weshalb ich Sie geholt habe."

"Nicht die geringste Ähnlichkeit vorhanden."
"Er war viel größer, hatte schwarze Haare, und ich bin blond."
"Jetzt würde mich interessieren, was Ihre Schwägerin zu dem Fall sagt."
"Was soll die sagen - die wartet auf ihr Geld. Sie braucht doch das Geld zum Leben, oder?"
"Ja. Natürlich. Aber ich meine etwas anderes. Ich meine - ... Betrachtet sie sich als Witwe?"
"Als was denn sonst? Wenn ihr Mann nicht mehr lebt, ist eine Frau doch eine Witwe."
"Selbstverständlich, Herr Fox. Ich übernehme diesen Fall. Sie werden bald von mir hören."
Mister Fox ins Unterdeck ...
"Mahlzeit!"
"Herr Doktor: Der Patient von Nr. 18a ist gerade gestorben!"
"Schon wieder. Sagen Sie Dr. Fingler, er soll sich darum kümmern. Hören Sie, Schwester: Diesmal möchte ich, daß Sie ein größeres Sortiment von Organen bereitstellen, damit sich dieses unerträgliche Gelaufe von vorgestern nicht wiederholt. Schöne Geschichte, wenn ich nur wüßte, was ich tun soll ..."
"Was raten Sie mir, Doktor?"
"Ich kann Ihnen versichern, daß es noch viel kompliziertere Fälle gibt, Herr Rechtsanwalt. Unserem Doktor Gregory ist neulich bei seinem Nachtdienst ein ungeheures Ding passiert. 18 Patienten wurden eingeliefert; ein Bus war von einer Brücke gefallen. 18 Personen wurden operiert. Aber nach den Eingriffen stellte sich heraus, daß 19 Patienten vorhanden waren. Können Sie sich das Problem vorstellen? Wer ist dieser 19. Mensch? Wer ist sein Vater, wer seine Mutter? Und woher kriegt man für ihn Dokumente?"
"Ich gaube, das schaff ich nicht."
"Und doch ist das vorige Woche hier passiert, und zwar unserem Doktor Gregory."

Lem: Ich bin nicht deswegen beglückt, weil ich schon weiß, daß man Lungen, Herz, Leber transplantieren kann und dann ... Dieser Fortschritt bringt uns mehr Dilemmen, Unglück, Probleme, gegeneinander geführte Kämpfe, wenn man sich ungewollt auseinander ...
((Hier fehlt vielleicht 1 Minute))
... falsch ist, möchte ich mich jetzt schon nicht befassen. Das war vor 30 Jahren natürlich unschuldige Phantasie und es ist schon keine unschuldige Phantasie mehr.

In allen seinen Büchern ist Stanislaw Lems unschuldige Phantasie auf Distanz gegangen, um den kritischen Blick aufs Ganze richten zu können.
Lem: Mich haben Schicksale von Einzelpersonen immer sehr wenig interessiert. Dagegen das Schicksal der Menschheit. Auch andere, potentiell existierende intelligente, sagen wir Wesen, Rassen und so. Entweder könnte ich, sagen wir, als ein Apache, als Komantsche geboren werden, auf die Welt kommen. Aber auch als ein Strauß, Vogelstrauß meine ich, das wäre sehr unangenehm. Als Elefant, oder überhaupt nicht - das wäre das Beste, natürlich, ja. Nicht geboren werden, das ist das Beste, was es auf der Welt gibt.
Lem wurde ein Leben lang getrieben von der Neugierde des Atheisten: Was ist der Mensch? Gibt es andere intelligente Wesen im Kosmos? Oder sind wir das Ergebnis einer einzigartigen Evolution? Was bleibt von der Wichtigkeit der Menschen übrig, wenn man sie aus der Perspektive von Galaxien und Lichtjahren betrachtet? Das Weltall hat allen Versuchen der Kontaktaufnahme beharrlich schweigend widerstanden. Vielleicht ist diese erschreckende Leere des Kosmos zugleich Lems Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Glück. Nicht zu existieren, die einzig denkbare Vollkommenheit.
Lem hat seine Phantasie im Weltraum spielen lassen, weil er von den technischen Möglichkeiten fasziniert war, die sich dort auftaten. Der Blickpunkt Kosmos hat es ihm aber auch erlaubt, der Menschheit, die mit einem wachsenden Arsenal technischer Mittel dem Glück nachjagd, den Spiegel vorzuhalten. Im Weltall fand Lem den idealen Standort, um alle Grenzen zu überschreiten: die des nationalen Denkens, die Ideologien der politischen Systeme und die Barrieren zwischen den spezialisierten Wissenschaften. Das unterscheidet ihn von den meisten Science-Fiction-Autoren, und auf Science-Fiction-Filme ist er erst recht nicht gut zu sprechen.
Lem: Je blöder das Thema, desto größer die Chance, daß es verfilmt wird. Ich habe sehr viele Möglichkeiten gehabt in den letzten Jahren, auf dem Bildschirm verschiedene - ich habe 40 Programme hier im Hause von Satelliten - Unmengen von Science-Fiction, das ist schlecht. Bekanntlich die größte Schwierigkeit mit den Discoveries hatten die Amerikaner mit den Klosetts. Das ist vielleicht der Abfluß ein großer Eiszapfen hängen ... darüber wird niemals in der Science-Fiction ... kein Wort gesprochen. Enterprise, das hat mich immer irritiert, daß diese Helden tragen solche Trikots, Hemden ... und die werden niemals gewaschen. Man kann sie überhaupt nicht ausziehen. Es gibt keine Toilette. Man kann keine Hände waschen. Bekanntlich ist das Waschen ein ganzes Problem bei der Schwerelosigkeit.
Lem hat in seinen Weltraumgeschichten auf scheinbare Nebensächlichkeiten immer größten Wert gelegt. Auch in einer phantastischen Erzählung darf man sich nicht in Widersprüche verwickeln - so lautete sein Credo. Die Gattung Science-Fiction ist inzwischen ganz von Lems Arbeitsplan verschwunden, mehr noch: in den letzten Jahren hat er überhaupt keine Romane oder Erzählungen mehr geschrieben, obwohl er zeitweise ein Schriftsteller von phantastischer Produktivität war.
Lem: 36 Bücher: Zum ersten bin ich schon im Rentenalter und zum zweiten oder zum allerersten habe ich den Glauben an die Literatur verloren. Das einzig anständige, was ein Schriftsteller machen kann, und was ich bereits tue, ist: aufhören zu schreiben. Stillgestanden, nicht wahr. Ich werde vielleicht noch etwas schreiben unter dem Titel: Bücher, die ich nicht schreiben werde. Aber das wären nur ganz kurze Zusammenfassungen, was möglich ist, in einem Aufsatz zu schreiben. Aber ich habe schon keine Lust.
Also: Keine Romane mehr. Aber auf seine kritischen Kommentare zu brennenden Zukunftsfragen muß man weiter gefaßt sein. Zum Beispiel: Wird man in 100 Jahren auf der Erde noch leben können?
Lem: Sehr optimistisch muß man sagen: Es gibt diese Möglichkeit. Aber bescheiden soll man sein, denn als pessimistische Prognose kann man sich immerfort darstellen, daß es so chinesische Mauern oder so Glaskuppeln geben wird über den reichsten Staaten, und die dritte Welt wird diese Überreste der Reichen belagern. Nicht wahr, das ist schon jetzt der Fall. Die Probleme der Asylanten. Das ist schon die ersten Anfänge. Und man soll den Anfängen wehren. Wehret den Anfängen, denn sonst natürlich, wenn es zu spät ist, kann man schon nichts anstellen. Es ist eigentlich schon ein bischen zu spät jetzt geworden. Aber Gott sei dank bin ich schon 71 und ich muß mich nicht so alt, so stark fühlen, dafür kümmern, ich persönlich, was in hundert Jahren geschehen wird, wiewohl ich natürlich der zukünftigen Menschheit nur Gutes wünsche.
Patentrezepte gibt es nur in utopischen Romanen, und dort haben sie meistens schauerliche Konsequenzen. So bleibt auch Stanislaw Lem nichts anderes übrig, als weiterhin in seinem Haus in Krakau auf Signale aus dem Weltraum zu warten, auf Signale aus dem schweigenden Kosmos. Wie sagte Ion Tychi in dem Roman Frieden auf Erden:
Mittlerweile war eine Welt untergegangen, unwiederbringliche Vergangenheit geworden, eine andere aber noch nicht einmal in Sicht. Ich teilte ihm diesen Gedanken nicht mit, dafür war er zu banal. Dafür goß ich den restlichen Schnaps in die Gläser.

Fernsehsendung, Niederschrift am 11.10.1992
Kommentar: Eine kleine dicke Person im Alter von 71 Jahren, Respekt!